Gestern haben wir ja über die Hierarchien, die sich manchmal innerhalb von Blog-Kommentarseiten ergeben, gesprochen. Hier ein kurzer, aber interessanter Artikel zu den (mangelhaften) Umgangsformen ebenda:
http://www.welt.de/die-welt/debatte/article7710068/Gesicht-zeigen.html
Vielleicht können wir ja einmal über Netiquette sprechen?
Schöne Grüße,
Annette
In den vielen Jahren, die ich nun schon im Internet verbracht habe, ist mir die Diskussion über anonyme Kommentare immer wieder begegnet. Meistens sind es die BetreiberInnen von Internetseiten oder Blogs, die sich darüber beschweren, dass einige ihrer LeserInnen sich nicht mit ihrem vollen Namen zu erkennen geben und im Schutz der Anonymität schärfste Kritik äußern, die teils in Beleidigungen abdriftet.
Dass Menschen im Internet mit ihrem bürgerlichen Namen auftreten, ist dabei eine eher neue Entwicklung. Zu Zeiten von IRC war (und ist) es ganz normal, sich nur und ausschließlich mit einem Nickname einzuloggen und so weit wie möglich „under cover“ zu bleiben. Im Zeichen des Datenschutzes ist das natürlich eine sehr sinnvollere Variante.
Wenn man sich Social Networks betrachtet, so lässt sich auch für MySpace feststellen, dass viele User mit einem frei erfundenen Nickname oder nur ihrem Vornamen auftreten, auch bei StudiVZ benutzen immernoch viele User Phantasienamen oder kürzen Vor- und vor allem Nachnamen ab. Erst die große Facebook-Welle hat dafür gesorgt, dass viele Menschen mit Vor- und Nachnamen im Internet als User zu finden sind.
Dass jemand auf einer Internetseite oder auf einem Blog einen Kommentar schreibt und nicht seinen Namen darunter schreibt, kann viele verschiedene Gründe haben, die schwierig zu erörtern sind.
Direkt von Feigheit und Verlogenheit zu sprechen wäre kurzsichtig. Auf den Effekt der Anonymität blickend denke ich, dass solche Kommentare oft dazu beitragen können, ehrliche Meinungen und unverlogene Kritik ohne Angst vor sozialen Repressionen im „real life“ zu äußern. Dadurch können einige Diskussionen erst so richtig in Gang gebracht werden. Somit ist Anonymität im Internet manchmal eine riesige Bereicherung. Es geht nicht mehr darum WER etwas schreibt, sondern um das Geschriebene selbst, um die Meinung. Alles andere bleibt Geheimnis. So können Themen manchmal konsequenter und weiter gedacht werden, weil nicht der ewige Schmuseton angeschlagen werden muss. Dynamik entsteht durch das Aufeinandertreffen von Gegenbewegungen, nicht durch Schmeichelei und verlogenes Lob oder heuchlerische Affirmation oder durch den kompletten Verzicht, überhaupt einen Kommentar zu schreiben.
Über Abdriftungen, Mobbing usw. müssen am Ende ohnehin die BetreiberInnen der Seite wachen. Sie müssen entscheiden, was sie stehen lassen und was sie zensieren.
Übrigens bietet Facebook ja mittlerweile eine Kommentarimplementierung für externe Seiten an, so dass die Kommentare direkt mit dem Facebook-Profil des Verfassers/der Verfasserin verknüpft werden.
Jetzt noch etwas zu diesem Satz:
„Sie sind bereits daran gewöhnt, dass Gerüchte gleichberechtigt neben sachlicher Kritik und begründeter Polemik stehen. Es wird Zeit, eine Trennlinie zu ziehen, die den prinzipiellen Unterschied zwischen freier Rede und Meinungswillkür wieder deutlich macht.“
Das klingt, als wären Jugendliche zu dumm, kritisch mit dem Internet umzugehen und ist ziemlicher (nicht totaler) Schwachsinn. Vor allem zeigt sich hier, dass der Verfasser des Artikels nicht mit dem Internet groß geworden ist…
Damit immer der/die Richtige die verbale Hetzattacke ab bekommt: das Impressum.
A.Z. hat auf Iversity bereits einen ersten Vorschlag eingestellt (Sitzing 26. Mai 2010) und bittet um Anmerkungen.
Hier noch zwei Links zu den rechtlichen Grundlagen:
http://www.telemedicus.info/article/259-5-Fragen-zu-Impressumspflichten-in-Weblogs.html
http://www.probloggerworld.de/impressumspflicht-blog/1/
Noch ein Zitat von Jens Jessen von der Zeit: „Es wird im Netz nicht gern gesehen, wenn Äußerungen qualifiziert oder gar nach Würde und Sachhaltigkeit des Argumentes in eine Hierarchie gebracht werden. Das Unterfutter der Netz-Utopie bildet offenbar ein tief empfundener Egalitarismus, der nicht duldet, dass es etwas anderes als Meinungen, womöglich sogar gültige Urteile geben kann. […] Es steht außer Frage, dass im Netz ein bedeutender Beitrag zur Demokratie geleistet werden kann. Aber die gegenwärtigen sozialen Umgangsformen verraten keine Tendenz zur E-Democracy, sondern eher zum E-Bolschewismus.“
Nachteil der Facebook-Verknüpfung ist allerdings, dass Facebook auf diese Weise noch mehr Daten über seine User sammeln kann, oder?
Und: Soziale Repressionen im „real-life“ nach einem Kommentar im Internet? Kannst du mir genauer erklären, was du damit meinst?
Ein etwas verspäteter Kommentar:
Interessant finde ich, wie viele Webseiten von Zeitungen Moderatoren beschäftigen, die tagtäglich unzählige Kommentare gegenlesen, in modifizierter Form freischalten oder ganz rausnehmen. Auf diese Weise werden ganze Gespräche gelenkt und kontrolliert. Vielleicht will man so der Tatsache entgegenwirken, dass man durch Nicknames eher dazu geneigt ist, provokative Äußerungen von sich zu geben. Als vor einigen Woche der Eurovision Song Contest lief, gab es auf Zeit-online eine riesige Debatte über die 0 Punkte von Israel. Anonymität verleitete in diesem Fall zu antisemitischen Äußerungen. Die Moderatoren haben diese Diskussionen sofort unterbunden, indem sie die Kommentare gelöscht und zu konstruktiven Beiträgen ermahnt haben. Im Nachhinein lassen sich die Diskussionen überhaupt nicht mehr nachverfolgen, weil sofort eingeschritten wurde:
http://www.zeit.de/kultur/musik/2010-05/eurovision-song-contest-lena-2?commentstart=1#comments
Insofern könnte man sich ja die Frage stellen, inwiefern anonyme Kommentare eine Zensur provozieren. Das ist dann nämlich in meinen Augen keine Bereicherung mehr für das Internet.